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Zoologische Stress-Forschung - ein Bindeglied zwischen Psychologie und Medizin

 

Nicht viele biomedizinische Begriffe sind so populär wie Stress. Seine Verwendung ist allerdings ebensowenig einheitlich, wie es die Ansätze der damit befaßten Disziplinen sind. Erst eine ganzheitliche Sicht könnte den unter Folgen von Stress Leidenden wirklich von Nutzen sein.

Dietrich von Holst

Im Jahre 1915 erschien in den Vereinigten Staaten ein Buch mit dem Titel „Bodily Changes in Pain, Hunger, Fear and Rage“ (körperliche Veränderungen bei Schmerz, Hunger, Angst und Wut). Der Neurologe und Physiologe Walter B. Cannon (1871 bis 1945) hatte darin die Ergebnisse seiner Untersuchungen über Auswirkungen emotionaler Vorgänge auf physiologische Prozesse zusammengefaßt. Emotionen waren für ihn dabei keine rein subjektiven Empfindungen, sondern vielmehr ganzheitliche Phänomene, die auch objektive – das heißt naturwissenschaftlich analysierbare – Anteile umfassen.

Sowohl bei Tieren als auch bei Menschen in erregenden Situationen hatte Cannon ein vielfältiges Mosaik an Veränderungen von Körperfunktionen gefunden: verminderte Magen- und Darmtätigkeit, stärkere Durchblutung und höhere Leistungsfähigkeit der Herz- und Skelettmuskulatur, eine Steigerung von Blutdruck, Atem- und Herzschlagfrequenz, einen Anstieg der Zahl der roten Blutkörperchen und des Zuckergehalts im Blut sowie eine verlangsamte Blutgerinnung. Alle diese Wirkungen konnte er auf eine gesteigerte Aktivität zweier Komponenten des vegetativen Nervensystems zurückführen: von Sympathikus und Nebennierenmark. (Das Vegetativum dient der Regelung der unbewußten, vom Willen weitgehend unabhängigen inneren Lebensvorgänge und deren Anpassung an die Erfordernisse der Umwelt; es ist aber eng mit dem animalen Nervensystem gekoppelt, das der Regelung der Beziehung zur Außenwelt dient, das heißt der willkürlichen und reflektorischen Motorik sowie – durch Ansprechbarkeit auf Sinnesreize – der Oberflächen- und Tiefensensibilität.)

Cannon beließ es jedoch nicht bei der Aufklärung dieser kausalen Steuerungsmechanismen, sondern fragte auch nach dem biologischen Sinn beziehungsweise dem Anpassungswert der so unterschiedlichen Reaktionen. Sein Schluß war: Alle diese Auswirkungen erhöhen die Fähigkeit des Individuums, sich aktiv mit kritischen Umweltsituationen auseinanderzusetzen – bereiten es also auf Kampf oder Flucht vor.

Cannon war sich allerdings auch darüber im klaren, daß nicht jeder emotionale Prozeß den Organismus aktiviert. Vielmehr kann eine mißliche Situation, wenn sie sich durch Handeln nicht ändern läßt, auch ein apathisches, inaktives Verhalten auslösen, wobei unter anderem die Herzschlagfrequenz sinkt und der Blutdruck fällt.

Bereits der englische Evolutionsforscher Charles Darwin (1809 bis 1882) hatte dies 1872 in seinem Buch „The Expression of the Emotions in Man and Animal“ (deutsch „Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren“) ausführlich beschrieben. Er sprach dabei vom Gefühl des Verzweifeltseins oder tiefen Kummers.

Für Cannon war charakteristisch, das Individuum ganzheitlich zu sehen. Diese Betrachtungsweise ist in der Medizin zunehmend der Konzentration auf einzelne Systeme und Organe – der Untersuchung ihrer Fehlfunktionen und deren Behandlung – gewichen. Dem sind zwar viele Erfolge zu verdanken; aber als unzureichend erweist sich ein solches eingeschränktes Vorgehen insbesondere bei Erkrankungen, die nicht auf eine bestimmte Ursache (etwa eine Infektion) zurückzuführen sind, sondern bei denen unterschiedlichste Faktoren zusammenwirken – genetische wie sozialisationsbedingte Verhaltensweisen wie Umwelt-einflüsse. Ein bekanntes Beispiel sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Eine unspezifische Reaktion?

Auf ganzheitlicher Sicht beruhte hingegen das Stress-Konzept, das der österreichisch-kanadische Mediziner und Biochemiker Hans Selye (1907 bis 1982) entwickelte und 1950 in die Biomedizin einführte. Er bezeichnet mit diesem Begriff die unspezifische Reaktion eines Organismus auf jede übermäßige Belastung. Ein solcher sogenannter Stressor kann große Kälte ebenso sein wie Sauerstoffmangel, eine Infektion, eine körperliche Anstrengung oder auch Angst oder Wut.

Wohlgemerkt, ein Organismus spricht auf so unterschiedliche Belastungen stets auch spezifisch an – beispielsweise auf eingedrungene Krankheitserreger mit bestimmten Immunreaktionen oder auf Sauerstoffmangel mit der vermehrten Bildung von roten Blutkörperchen. Doch so verschieden die jeweiligen Situationen auch sein mögen – sie lösen im Organismus eine Reihe unspezifischer, aber gleichartiger Reaktionen aus: solche, die insgesamt seine Widerstandskraft erhöhen.

Selye nannte dieses Phänomen das allgemeine Anpassungs- oder Stress-Syndrom. Er unterschied bei der physiologischen Antwort des Körpers mehrere Phasen.

Sobald die Belastung einsetzt, werden augenblicklich das Sympathikus-Nebennierenmark- sowie das Hypophysen-Nebennierenrinden-System aktiviert (die etwa haselnußkerngroße Hypophyse oder Hirnanhangdrüse ist praktisch die übergeordnete Instanz der inneren Sekretion). Beide Systeme geben nun Hormone – Adrenalin und Noradrenalin aus dem Mark beziehungsweise Cortisol und Corticosteron aus der Rinde – an das Blut ab. Innerhalb kürzester Zeit steigen dadurch Puls, Blutdruck und Atmung, die Skelettmuskulatur wird besser durchblutet, und aus den Vorräten der Leber wird Energie in Form von Blutzucker bereitgestellt, Körpereiweiß wiederum in Blutzucker umgebaut und der Leber zugeführt. Die akute Stress-Reaktion steigert mithin die Leistungsfähigkeit beträchtlich und erhöht damit die Chancen, die Situation zu meistern.

Wirken derartige Belastungen nur selten und kurzfristig, dann bleiben sie in der Regel für den Organismus ohne weitere Folgen; bereits wenig später erlangt er seinen ursprünglichen Zustand zurück. Eine nur teilweise Rückbildung der physiologischen Symptome bei der Alarmreaktion zeigt allerdings schon eine beginnende Adaptation an.

Langfristigen Belastungen hingegen – großer Kälte etwa oder unablässigen Kämpfen – paßt der Körper sich durch eine Veränderung seines physiologischen Zustands an. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Stadium der Abwehr oder Resistenz, wie Selye es darlegte, eine erhöhte Nebennierenrinden-Aktivität.

Bei zu schwerem oder zu lange anhaltendem Stress schließlich bricht das Anpassungsvermögen zusammen. In diesem Stadium der Erschöpfung kann durch Versagen der Nebennierenrinde gar der Tod eintreten.

Auf die Dauer schaden also die zunächst vorteilhaften körperlichen Anpassungen dem Organismus. Selye meinte, sie könnten Erkrankungen aller Art – von Bluthochdruck und Magengeschwüren bis hin zu Diabetes und Krebs – begünstigen.

Dieses Konzept beeinflußte die Forschung nachhaltig. Seit Selyes Publikation erscheinen täglich etwa 20 wissenschaftliche Arbeiten mit dem Begriff Stress im Titel.

Die Unmenge von Untersuchungen bestätigte zwar auch immer wieder, daß bei einer Belastung physiologische Reaktionen ablaufen, die nicht direkt mit dem Reiz – dem Stressor oder der Stress-Situation – in Verbindung stehen; doch zeigten sie mehr und mehr grundlegende Mängel und Widersprüche in Selyes Konzept auf. Dies dürfte dazu beigetragen haben, daß viele Mediziner die von ihm postulierten Stress-Krankheiten als solche gar nicht anerkannten.

Als wichtig erwies sich eine Arbeit von 1968, mit der John W. Mason und seine Kollegen vom Walter-Reed-Army-Institute of Research in der amerikanischen Bundeshauptstadt Washington zur Klärung beitrugen. Sie widerlegten überzeugend Selyes zentrale Aussage, das Stress-Syndrom sei eine unspezifische Reaktion auf unterschiedlichste Belastungen; demnach ist dieses Muster von Symptomen vielmehr eine spezifische physiologische Antwort auf einen bei allen Experimenten Selyes im Prinzip gleichen, charakteristischen Umstand: Ob ein Tier an der Bewegung gehindert ist, unvermeidbaren Elektroschocks oder extremen Temperaturen ausgesetzt wird oder bis zur Erschöpfung schwimmen muß – immer ist es in einer ausweglosen Situation, die es nicht durch Handeln beenden kann.

So bringt man heute einschränkend Selyes Stress-Reaktion insbesondere mit Unsicherheit und Kontrollverlust in Verbindung. Dieser Zustand, bei dem das Hypophysen-Nebennierenrinden-System aktiviert ist, stellt sich nicht nur in vielen Tierexperimenten ein, sondern tritt auch in alltäglichen Situationen von Tier und Mensch immer wieder auf.

Zwei Stress-Achsen

Eine entscheidende Modifikation des ursprünglichen Konzeptes führten dann 1977 James P. Henry und Patricia M. Stephens von der Universität von Südkalifornien in Los Angeles ein. In dem Buch „Stress, Health, and the Social Environment“ (Stress, Gesundheit und die soziale Umwelt) faßten sie die Ergebnisse zoologischer, psychologischer, soziologischer und medizinischer Stress-Forschung zusammen und kamen zu dem Schluß, daß zwei voneinander unabhängige Stress-Achsen zu unterscheiden seien:

– Das von Cannon als fundamen- tal erachtete Sympathikus-Nebennierenmark-System wird aktiviert, wenn das Tier durch aktives Handeln die Situation unter Kontrolle zu bringen versucht ; außerdem dürfte der Zustand Gefühle wie Angst oder Wut beinhalten. Dieser sogenannte aktive Stress soll langfristig die Entstehung von Arteriosklerose und Schäden des Herz-Kreislauf-Systems begünstigen.

– Das von Selye ins Spiel gebrachte Hypophysen-Nebennierenrinden-System wird bei Verlust der Kontrolle über Personen oder Situationen aktiviert und ist durch Unsicherheit bis hin zu Hilflosigkeit und Depression gekennzeichnet. Dieser passive Stress soll langfristig Erkrankungen begünstigen, bei denen das Immunsystem mitspielt – dazu gehören Autoimmunreaktionen ebenso wie Krebs.

Obwohl ich überzeugt bin, daß künftige Erkenntnisse eine weitere Differenzierung des Konzeptes der zwei Stress-Achsen ermöglichen werden, hat es bis heute – im Gegensatz zu Selyes widersprüchlichem Konzept – seine Tragfähigkeit in der Zoologie ebenso bewiesen wie in der Medizin. Es sollte deshalb Grundlage jeder weiteren Stress-Forschung sein.

Unterschiede im Forschungsansatz von Psychologie und Medizin

Zu vielen Mißverständnissen hat beigetragen, daß der Begriff Stress in den damit befaßten Disziplinen unterschiedlich gebraucht wird. In der Biomedizin bezeichnet man damit den Zustand des Organismus bei Einwirken einer Belastung und unterscheidet nach dem physiologischen Reaktionsmuster aktiven und passiven Stress. Hingegen ist Stress in der psychologischen Forschung, ebenso wie in der Alltagssprache, der belastende Einfluß (den Selye Stressor nannte); entsprechend werden sehr viele Formen wie Kälte-, Lärm-, Schwimm- oder Prüfungsstress unterschieden.

Auch steht das Wort hier meist als Synonym für Aktivierung oder Emotion. So mißt man insbesondere am Menschen als Hinweis auf die aktive Stress-Reaktion die Aktivierung des Sympathikus-Nebennierenmark-Systems, um emotionale Vorgänge und deren Intensität zu untersuchen; allerdings fehlen weitgehend Langzeitbeobachtungen über Wochen oder Monate. Auch die vielen Tierexperimente, vorwiegend an Ratten und Affen, sollen unter möglichst standardisierten Bedingungen meist emotionale Prozesse erhellen, zum Beispiel erlernte Angst oder Hilflosigkeit und deren physiologische Begleiterscheinungen. Dazu beobachtet man in der Regel, anders als beim Menschen, nur die passive Stress-Reaktion, also die Aktivität des Hypophysen-Nebennierenrinden-Systems. Vor allem Richard Lazarus und Paul Seligman von der Universität von Kalifornien in Berkely haben eindrucksvoll belegt, daß spezifisch diese Achse reagiert, wenn das Tier unsicher oder die Situation für es unkontrollierbar wird.

Die psychologische Stressforschung ist zudem vorwiegend daran interessiert, wie die potentiell schädigenden Auswirkungen einer Belastung sich durch Verhaltensweisen und durch kognitive Verarbeitung, also durch aktive und passive Strategien der Bewältigung, mindern lassen. Dies mag ein Beispiel verdeutlichen: Ein Reh findet direkt an einer Straße besonders gutes Futter und frißt dort gerade, als ein Auto herankommt und mit hoher Geschwindigkeit an ihm vorbeibraust. Beim ersten Mal wird das Tier in großer Panik und mit stärksten physiologischen Stress-Reaktionen wegrennen. Mit der Zeit lernt es jedoch, daß Autos nicht gefährlich sind, und äst unbeeindruckt weiter. Der Biomediziner würde sagen, das Tier stehe jetzt nicht mehr unter Stress; für den Psychologen aber ist der Stress – das heransausende Auto – gleich geblieben, jedoch hat das Tier diese zunächst als bedrohlich empfundene Situation durch zentralnervöse Verarbeitungsprozesse bewältigt.

Im Gegensatz zur Psychologie hat die Medizin sich nicht mit emotionalen Stress-Reaktionen auseinandergesetzt. Vielmehr wurde eine Vielzahl mehr oder minder unspezifischer physiologischer Veränderungen in den unterschiedlichsten belastenden Situationen nachgewiesen: bei Krankheiten oder operativen Eingriffen genauso wie bei extremen klimatischen Bedingungen oder körperlichen Anstrengungen (beispielsweise im Sport). Indes blieb das von Selye erhoffte bessere Verständnis von Erkrankungen und deren Entstehung aus.

Zunehmend gelang es dagegen der epidemiologischen Forschung in den letzten 30 Jahren, Erkrankungen beim Menschen mit belastenden Ereignissen in Verbindung zu setzen. Eine kleinere Gruppe von Forschern geht der passiven Stress-Reaktion nach, untersucht also die Umstände und Auswirkungen, wenn jemand sich hilflos fühlt oder sich gar aufgibt. Die größere Fraktion fragt, inwieweit aktive Stress-Reaktionen über eine Aktivierung des Sympathikus-Nebennierenmark-Systems an der Entstehung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen beteiligt sein können. Dabei werden auch Verhaltenseigenschaften immer stärker als Risikofaktoren verdächtigt. So sind nach einer Studie der amerikanischen Kardiologen Meyer Friedman und Ry Rosenman Personen, die leicht mit Erregung, Anspannung, Aggressivität, Ungeduld und Ärger reagieren, besonders gefährdet, Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems zu erleiden.

Stress in Tierpopulationen

Die zoologische Stress-Forschung gründet auf einem irritierenden Befund, der schon Darwin beschäftigt hatte: Obwohl jede Tierart unverhältnismäßig mehr Nachwuchs produzieren kann als für eine gleich große Folgegeneration nötig wäre, bleibt die Anzahl der Individuen einer Population über Generationen hinweg weitgehend konstant. Diese Beobachtung veranlaßte Ökologen, eine Selbstregulation anzunehmen.

Als Mechanismus dafür schlug John Christian vom Albert-Einstein-Medizinzentrum in Philadelphia (Pennsylvanien) bereits 1950 Selyesche Stress-Reaktionen vor: Auf zunehmende Populationsdichte sollen sich die Tiere mit qualitativ und quantitativ entsprechend verändertem Verhalten einstellen; dies wäre für sie aber belastend – ein sozialer Stress – und würde tiefgreifende Veränderungen ihres gesamten physiologischen Zustandes verursachen. Je nach Ausmaß der Belastung würden Wachstum, Fruchtbarkeit und Gesundheit mehr oder minder beeinträchtigt, was letztlich der Bevölkerungszunahme entgegenwirkte. Tatsächlich können einzelne Individuen und selbst ganze Populationen unter extremem sozialem Stress sogar sterben, etwa Wildkaninchen, Hasen, Wühlmäuse und andere kleinere Säugetiere.

Eines der drastischsten Beispiele für ein solches Massensterben bieten die räuberischen Breitfußbeutelmäuse. Alle Weibchen dieser in Australien weit verbreiteten Tierart bekommen Ende September – im dortigen Frühling – Junge, die nach etwa drei Monaten selbständig sind. Sie verlassen Ende Mai ihren Geburtsort und verteilen sich in ihrem Lebensraum. Im August setzt dann die kurze Fortpflanzungsperiode ein: Auf der Suche nach Weibchen durchstreifen die Männchen ihr Gebiet, wobei sie viele heftige Konkurrenzkämpfe bestehen müssen. Nach zwei bis drei Wochen – also noch vor Ende ihres ersten Lebensjahres – sterben sie alle.

Die Weibchen bringen nach einer Tragzeit von etwa einem Monat ihre Jungen zur Welt, und ein neuer Zyklus beginnt. Ohne die männliche Konkurrenz um Futter haben sie besonders gute Bedingungen zur Jungenaufzucht.

Wie sich in den letzten Jahren nachweisen ließ, beruht der Tod der Männchen auf einem dramatischen Anstieg der Stresshormone Cortisol und Corticosteron im Blut und einem damit einhergehenden Zusammenbruch des Immunsystems; sie leiden an Magen-Darm-Blutungen, Anämie, schwerstem Parasitenbefall, bakteriellen Leberschädigungen und anderen Infektionen. Hauptursache der physiologischen Veränderungen ist die extrem gesteigerte Aggression untereinander. Männchen, die man vor der Paarungszeit einfängt und einzeln hält, können ebenso wie die Weibchen in der Natur einige Jahre alt werden.

Auswirkungen sozialer Unterlegenheit

Tod als Folge fortwährender Streitigkeiten um Weibchen, Rangpositionen oder Reviere ist auch von anderen Tierarten aus der Natur und dem Labor bekannt – allerdings nur unter extremen Bedingungen wie bei zu hoher Populationsdichte. In der Regel dauern heftige Auseinandersetzungen bei Säugetieren jedoch nicht allzu lange an, weil sie – wenn sie sich nicht aus dem Wege gehen können oder wollen – Dominanzbeziehungen aufbauen; das mindert auch das Verletzungsrisiko für alle Beteiligten. Dennoch können Stress-Reaktionen bestehenbleiben, wie unsere Untersuchungen an Tupajas verdeutlichen.

Tupajas oder Spitzhörnchen, etwa eichhörnchengroße tagaktive Säugetiere, sind in ganz Südostasien verbreitet (Bild 1). Aufgrund einer Reihe von Merkmalen hatte man sie ursprünglich den Affen zugeordnet; heute gelten sie jedoch als eine eigene Säugetierordnung. In der Natur leben sie paarweise in Territorien, die sie sehr heftig gegen fremde Artgenossen verteidigen. Auch in Gefangenschaft kann man sie langfristig nur paarweise halten.

Setzt man zu einem solchen Paar ein fremdes Männchen, beginnen die beiden Männchen meist augenblicklich heftig zu kämpfen, und der Eindringling wird unterworfen. Sobald die Dominanz geklärt ist, läßt der Sieger von weiteren Attacken ab und beachtet den Verlierer kaum noch. Der Unterlegene verkriecht sich hingegen in einem möglichst geschützten Versteck (Bild 1 rechts), das er nur noch zu hastigem Fressen und Trinken verläßt. Auch in den folgenden Tagen greifen sich die beiden Tiere selten oder überhaupt nicht an. Dennoch verliert das unterlegene drastisch an Gewicht, wird apathisch und stirbt nach wenigen Tagen.

Das ist nicht etwa Folge körperlicher Anstrengungen beim Kampf. Auch Verwundungen kommen als Ursache nicht in Betracht, da sich die Tiere – wenn überhaupt – nur oberflächliche Verletzungen beibringen. Vielmehr beruht der Tod des Unterlegenen auf der ständigen Anwesenheit des Siegers.

Trennt man nämlich beide Tiere nach dem Kampf durch eine undurchsichtige Wand, so erholt sich der Verlierer ebenso schnell wie der Sieger. Er stirbt nicht einmal vorzeitig, wenn man ihn über Wochen täglich für einen Kampf mit dem Sieger zusammenbringt. Werden beide Tiere hingegen nur durch ein Gitter getrennt, so daß der Verlierer zwar nicht mehr attackiert werden kann, aber den als bedrohlich empfundenen Sieger immerzu sieht, geht er ebenfalls innerhalb weniger Tage ein. Anthropomorph gesprochen: Der Verlierer stirbt an der andauernden Angst.

Untersuchungen an den verschiedensten Arten haben inzwischen gezeigt, daß Stress-Reaktionen essentiell zum Leben aller Tiere gehören (siehe „Stress in freier Natur“ von Robert M. Sapolsky, Spektrum der Wissenschaft, März 1990, Seite 114). Im Labor ebenso wie in der Natur werden sie in der Regel nicht durch physische Anstrengungen, zum Beispiel bei Kämpfen verursacht, sondern sind überwiegend zentralnervös bedingt – sie beruhen auf emotionalen Prozessen, die mit Kampf um die Kontrolle einer Situation oder um eine Position beziehungsweise mit dem Verlust der Kontrolle einhergehen.

Untersuchungen an Tieren und Menschen bestätigen auch das Konzept der zwei Stress-Achsen. Einen besonders eindrucksvollen Beleg dafür liefern unsere Befunde an Tupajas.

Bringt man zwei einander unbekannte männliche Tiere in einem für beide fremden Käfig zusammen, so gehen sie nicht sofort aufeinander los, sondern erkunden zunächst einmal vorsichtig den Raum. Erst nach einigen Stunden beginnen sie sich leicht zu attackieren und bauen innerhalb von drei Tagen eine Dominanzbeziehung auf. Fortan kümmert sich der Sieger kaum noch um den Verlierer und greift ihn, falls überhaupt, nur noch recht selten an.

Unterlegene Tupaja-Männchen hingegen verändern ihr Verhalten auffallend. Dabei können wir zwei Gruppen von ihnen unterscheiden: submissive und subdominante Männchen.

Submissive Tiere verkriechen sich in irgendein Versteck, das sie nur noch zum Fressen und Trinken verlassen. Sogar die seltenen Attacken des Siegers lassen sie in der Regel ohne Gegenwehr oder Fluchtversuch über sich ergehen und machen dabei einen apathischen, depressiven Eindruck. Stets sterben sie innerhalb weniger Tage, wenn man sie nicht rechtzeitig aus dieser Situation befreit.

Subdominante Verlierer verhalten sich ganz anders: Sie sind übermäßig aktiv, beobachten immerfort den Sieger und versuchen, Begegnungen durch Ausweichen oder Flucht zu vermeiden; ist eine Konfrontation nicht zu umgehen, verteidigen sie sich sogar. Solche Tiere können in dieser Situation ohne weiteres wochenlang überleben.

Parallel zu ihrem Verhalten ändern sich bei allen Tupaja-Männchen unter diesen Bedingungen das Körpergewicht und die verschiedenen physiologischen Parameter, und zwar teils drastisch. Bei der Konfrontation steigt bei beiden Männchen sofort die Aktivität der beiden postulierten Stress-Achsen – ganz im Sinne von Selyes Konzept. Sobald die Dominanz geklärt ist, verschwinden bei den Siegern trotz gelegentlicher Streitigkeiten nicht nur alle Stress-Reaktionen, sondern ihre Cortisol-Blutspiegel sinken sogar unter die Ausgangswerte ab (Bild 3 links), ihre Gewichte und die Gonadenaktivitäten nehmen zu. Die unterlegenen Männchen hingegen verlieren Gewicht; sie werden blutarm, und die Hormonproduktion von Bauchspeicheldrüse, Schilddrüse und Gonaden ist vermindert. Insgesamt sind diese Auswirkungen bei beiden Gruppen von Unterlegenen ähnlich, sie unterscheiden sich nur im Ausmaß.

Dagegen fungieren die beiden Stress-Achsen bei subdominanten und submissiven Tieren völlig verschieden. Bei den subdominanten Männchen, die sich mit der Situation auseinandersetzen, bleibt die Sympathikus-Nebennierenmark-Aktivität erhöht. Deshalb ist unter anderem ihre Herzschlagfrequenz unentwegt gesteigert, selbst in der Nacht noch, wenn die Tiere in einem eigenen Versteck schlafen (Bild 2). Zweifellos verursacht die permanente Alarmbereitschaft langfristig Schäden des Herz-Kreislauf-Systems. Die Hypophysen-Nebennierenrinden-Aktivität allerdings nimmt – entgegen Selyes Konzept – ab, sowie die Dominanzbeziehung hergestellt ist: Der Cortisol-Blutspiegel geht auf den Ausgangswert zurück (Bild 3 Mitte).

Das Entgegengesetzte geschieht bei den submissiven Tieren, die sich passiv in ihre Lage ergeben. Ihre Sympathikus-Nebennierenmark-Aktivität sinkt unter die Ausgangswerte, aber ihre Nebennierenrinden-Aktivität steigt deutlich an (Bild 3 rechts). Sie bauen dadurch vermehrt Muskulatur und Fettgewebe ab, und die Abwehrkräfte des Immunsystems werden stark gedrosselt.

Je nach ihrem Verhalten zeigen die unterlegenen Tupajas also unterschiedliche physiologische Reaktionen, welche das Konzept zweier unterschiedlicher Stress-Achsen bei Säugetieren bestätigen: die von Cannon beschriebene Vorbereitung des Organismus auf Kampf oder Flucht mit gesteigerter Sympathikus-Nebennierenmark-Aktivität und das von Selye entworfene Erscheinungsbild mit vorwiegender Aktivierung von Hypophyse und Nebennierenrinden. Die aktive Auseinandersetzung mit der belastenden Situation dürfte mit subjektiven Empfindungen wie Angst oder Wut einhergehen, die passive mit Hilflosigkeit und Niedergeschlagenheit.

Implikationen für den Menschen

In der Verhaltensforschung mißt man heute vielfach die physiologischen Stress-Parameter, wenn man etwas über die emotionalen Prozesse erfahren möchte, die ein bestimmtes Verhalten begleiten oder in einer sozialen Situation vorkommen. Meiner Meinung nach bestehen hier die engsten Verbindungen zwischen zoologischer und psychologischer Stress-Forschung.

Zudem entwickeln sich bei Säugetieren im Labor ebenso wie in Freiheit unter langanhaltenden soziopsychischen Belastungen all die Erkrankungen, die man beim Menschen als typische Zivilisationsschäden einstuft – Arteriosklerose, Herz- und Kreislauf-Komplikationen, Bluthochdruck sowie Nierenversagen. Für deren Epidemiologie sind Tierexperimente eine wichtige Stütze, da sie eindeutig belegen, daß auch psychische Prozesse solche Erkrankungen bedingen können.

Viele Mediziner begegnen dem allerdings noch mit Skepsis, verlangt dies doch eine ganzheitliche Betrachtung des Patienten und seines Leidens. Doch viele der heute häufigen Krankheitsbilder wird man nicht verstehen und somit auch nicht heilen können, ohne die Faktoren zu berücksichtigen, die von der zoologischen Grundlagenforschung ebenso wie von Psychologie und Soziologie aufgedeckt werden. Stress ist komplex; es kann nicht nur darum gehen, nur Symptome seiner schädlichen Folgen mehr oder minder gut zu behandeln.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1993, Seite 92
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

Sonja Bauer

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